ÜBER LEBEN • HERZBERG
ÜBER LEBEN • HERZBERG
Premiere – Samstag, 08. März 2014
Regie: Klaus Kusenberg, Ausstattung: Günter Hellweg, Dramaturgie: Horst Busch
Von Judith Herzberg : In der Fassung für das Deutsche Theater Berlin
Ich spiele Zwart, Nicol Vater
Foto © Marion Bührle
Es ist das Jahr 1972. Ada und Simon richten die Hochzeit ihrer Tochter Lea aus. Alle sind sie da: Freunde, Verwandte – auch die Ex-Ehemänner mit ihren neuen Frauen, denn es ist bereits Leas dritte Ehe. Die Familienverhältnisse sind selbst für die Angehörigen nicht mehr leicht zu durchschauen, doch bei allem Trubel, allen Liebesgeschichten und kleinen Skandalen lassen sich die Geister der Vergangenheit nicht verjagen: Ada und Simon haben das Konzentrationslager überlebt, Lea hat während dieser Zeit bei einer Ziehmutter gelebt, die Mutter des Bräutigams ist im Lager gestorben – bis in die Generation der Enkel ist die Shoa gegenwärtig. Misstrauen, Angst, Verunsicherung und Wut bestimmen noch immer die Familiengespräche. Auch wenn nach dieser Hochzeit weiter geheiratet und sich verlassen wird, wenn Menschen sterben, Kinder geboren werden, diese sich verlieben und wieder verlassen, so ist das gemeinsame Leben immer auch ein Überleben …
„Über Leben“ ist ein Familiendrama in vielen kleinen, charmanten, witzigen und berührenden Szenen. Es erzählt von drei Generationen, die jede auf ihre eigene Weise von ihrer Zeit und der jüdischen Vergangenheit geprägt ist. Mit großer poetischer Kraft zeichnet die Autorin zerbrechliche, sehnsüchtige Menschen, die sich trotz aller Versuche, die Gegenwart zu leben, niemals ganz von der Vergangenheit lösen können.
Judith Herzberg, 1934 in Amsterdam geboren, zählt zu den wichtigsten Lyrikerinnen und Theaterautorinnen der Niederlande. Für ihr Drehbuch zu dem Film „Charlotte S.“ über das Leben der jüdischen Malerin Charlotte Salomon erhielt sie 1981 den Bayerischen Filmpreis. Darüber hinaus hat sie zahlreiche renommierte Preise und Auszeichnungen erhalten, u. a. die niederländischen Preise Constantijn Huygensprijs (1994) und P. C. Hooftprijs (1997), jeweils für ihr Lebenswerk.
2011 wurde das dreiteilige Familienepos der niederländischen Autorin zum ersten Mal unter dem Titel „Über Leben“ an einem Abend gezeigt. Nach dieser Uraufführung am Deutschen Theater Berlin ist das Schauspiel des Staatstheater Nürnberg das zweite Theater, das die Trilogie an einem Abend zeigt.
Jochen Kuhl (Simon, Leas Vater), Renan Demirkan (Ada, Leas Mutter), Nicola Lembach (Lea, Tochter von Ada und Simon), Elke Wollmann (Riet, „Kriegsmutter“ von Lea), Frank Damerius (Zwart, Nicos Vater), Adeline Schebesch (Duifje, seine Frau, Stiefmutter Nicos), Daniel Scholz (Nico, dritter Mann von Lea), Louisa von Spies (Dory, erste Frau von Nico), Marco Steeger (Alexander, erster Mann von Lea), Michael Hochstrasser (Hans, Freund von Nico), Josephine Köhler (Pein), Thomas Klenk (Kluiters, Klempner), Karen Dahmen (Annabel), Henriette Schmidt (Xandra, Tochter von Alexander), Julian Keck(Chaim, Sohn von Hans und Pein), Martin Bruchmann (Isaac, Sohn von Simon und Dory), Henriette Schmidt (Hendrikje, Werkstudentin)
Vor drei Jahren hat das Deutsche Theater Berlin unter Aufbietung seines Star-Ensembles den verhalten theatralischen, erst spät am Abend als Drama zündenden Text zum Achtungserfolg geführt. Am Nürnberger Staatstheater wagte jetzt Spartenchef Klaus Kusenberg den zweiten Versuch und stützt sich dabei ebenfalls ganz entschieden auf die Qualität der Schauspieler. Das kann er, denn bei immerhin 17 auftretenden Personen im Nabelschau-Modus gibt es keinen einzigen Ausfall.
Die Inszenierung liefert sich der mit Komik unterfütterten, auf Doppelbödigkeit federnden Poesie vorbehaltlos aus.
Als Ur-Eltern Simon und Ada sind Jochen Kuhl und Renan Demirkan die Leitfiguren.
Noch stärker bringen Frank Damerius und Adeline Schebesch, als „Nicht-Jude“ und seine „Stief-Frau“ genannte Partnerin, den Humor und die Bitterkeit der Vorlage in die Idealbalance.
Elke Wollmann ist als „Kriegsmutter“ des jüdischen Mädchens eine verwitternde Heldin in Lauerstellung, würde sie doch gern Ersatz-Ehefrau sein und jederzeit hebräische Lieder singen, die sie nicht versteht.
Nach den Verwicklungen mit Zweit-Frauen, Dritt-Hochzeiten und aggressiven Generations-Schüben samt E-Gitarre kann auch die verstorbene Ada als unternehmungslustiges Gespenst den hinterbliebenen Witwer nicht mehr verführen. Sie will sich gesellig auf den Mond schießen lassen. Er antwortet: „Weißt du, was das kostet?“ Am Ende ist der Stammbaum (den in den Pausen so mancher Besucher hilfesuchend im Programmheft studierte) zu literarischem Kleinholz verarbeitet: „Ich bin die, die sich erinnert. Aber nicht die, der es geschah“.
Die 79jährige Judith Herzberg war zur Nürnberger Premiere angereist und verbeugte sich offenbar mit Wohlgefallen an der Aufführung.
Dieter Stoll
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